Dienstag, 20. März 2018

Assoziation zu Michaela Tascheks „Doppelgänger“

gesehen auf der Diagonale 2018


 Du denkst jetzt sicher, wenn du das liest, denkst du sicher, aber jetzt denkst du es vielleicht doch nicht, weil wer will schon denken, was andere erwarten? Es ist auch wirklich nicht so, dass mir meine Mutter so fremd war. Ich schreibe das eher, weil ich ihr so ähnlich bin, weil ich Angst habe, dass
auch ich ersetzt werden könnte. Manchmal wünsche ich es mir sogar. Du weißt nicht, wovon ich rede. Jetzt tust du eben so, weil du dir nicht sagen lassen willst, dass du etwas nicht verstehst.
Anders angefangen: Es ist eben so. Die Mutter, die ich von Bildern kenne, von Video-Aufnahmen, von frühen Erinnerungen, die habe ich verpasst, nie richtig kennengelernt. Vielleicht hat es sie nie gegeben. Man filmt ja nur dies und das, eben nicht alles. Es wäre aber schön, wenn es sie gegeben hätte. Ersetzt. Manchmal – jede Nacht, um ehrlich zu sein – denke ich darüber nach, was sie jetzt macht. Es ist sicher nicht einfach. Sie ist ja ganz allein und vermisst ihre Familie. Oder sie freut sich, dass sie uns los ist. In manchen meiner Fantasien ist sie traurig, in anderen geht es ihr gut, da liegt sie am Strand, irgendwo weit weg, zum Beispiel in Thailand, und fühlt sich frei. Weil die Doppelgängerin ihr irgendwie auch die Pflichten abgenommen hat. Ich habe nämlich eine Theorie: Die Doppelgängerin sucht sich jene aus, die im Grunde ersetzt werden wollen. Sonst könnte sie gar nicht kommen. Sie geht von Haus zu Haus, und wenn sie sieht, dass eine weg will, dann hockt sie sich in die Nähe und wartet geduldig, bis die in der Früh das Haus verlässt.
So muss es mit meiner Mutter gewesen sein. Sie geht los, geht zur Arbeit, da spricht die Doppelgängerin sie an, sagt ihr: „Na, wieder Arbeit?“ Und meine Mutter sagt: „Wies halt so ist“, oder so etwas. „Soll ich für dich gehen?“ fragt die Doppelgängerin. Meine Mutter begreift jetzt, dass sie eine Doppelgängerin vor sich hat, dass die Frau, der sie gegenüber steht, ihr völlig gleicht. Zuerst hat sie sich gar nicht erkannt. Meine Mutter lacht, zuckt mit den Schultern und macht so eine Geste mit der Hand, die sich die Doppelgängerin gleich einprägt, wie eine Polizistin, die den Verkehr durchwinkt. Und dann sieht sie der Doppelgängerin nach, wie die für sie zur Arbeit geht.
Meine Mutter bleibt noch einige Tage in der Nähe des Hauses. Sie kontrolliert, ob die Doppelgängerin auch wirklich alles macht, was sie machen soll: ob sie brav arbeitet, die Kinder von der Schule abholt, essen kocht und so weiter. Als meine Mutter sicher ist, dass sie nichts mehr hält, geht sie zum Flughafen und bucht ein Restticket. Vielleicht nach Shanghai, vielleicht nach Lima, vielleicht nur nach Bielefeld.