Freitag, 29. März 2019

Die Leinwand vor den Augen



Die Helmut List Halle liegt in einem Industriegebiet hinter dem Grazer Hauptbahnhof. Hier findet traditionell die Eröffnung der Diagonale statt, des Festivals des österreichischen Films. Seit die Intendanz von Peter Schernhuber und Sebastian Höglinger übernommen wurde, die wir schon von ihrer früheren Arbeit beim Welser Jugendfilmfestival Youki kennen, führen wir jedes Jahr Interviews, assozieren literarisierende Texte, schießen Fotos und vor allem schauen wir jede Menge Filme. Dieses Jahr sind wir zu zweit, Sarah Kanawin und ich, und können nur bis zum Abend des nächsten Tages bleiben. Dementsprechend haben wir vor, die kurze Zeit gehörig auszukosten.
Als wir ankommen, dämmert es bereits. Der Parkplatz neben der Halle ist noch leer. Ganz hinten steht ein Mann in einer gelben Warnweste, der uns mit einem Leuchtstab wie ein Fluglotse in einen der hinteren Parkplätze einweist. Wir befinden uns seitlich neben der Haupthalle weniger als eine Gehminute vom Eingang entfernt. Dort erhalten wir ein Leinensäckchen mit einer Blumenbzwiebel. Ein Werbegeschenk der Kleinen Zeitung, einer der Hauptsponsoren der Diagonale. Wir stehen in einer länglichen Vorhalle, die zu beiden Seiten Bars und Garderoben säumen, geben unsere Jacken ab.
In die Haupthalle gelangen wir, indem wir unter dem Gerüst der Sitzreihen durchgehen, was mich an die Tribüne eines Zirkuszelts erinnert. Vorne steht ein Redner*innenpult vor der Großleinwand. Wir suchen unsere Plätze. Letztes Jahr saßen wir ganz hinten, diesmal sitzt Sarah in der zweiten Reihe und ich direkt hinter ihr in der dritten. Von hier würden wir zwar die Redner*innen gut sehen, dafür hängt uns die Leinwand übergroß vorm Gesicht. Direkt neben Sarah bauen die Presseleute ihre Stative auf. Eine junge Fotografin klemmt ein Smartphone provisorisch in einem Kamerastativ fest. Da die Halle sich nur langsam füllt, drehen wir Runden im Saal. Nach der dritten kennen uns die Platzanweiser*innen, nicken uns zu oder schmunzeln.
Wir nehmen unsere Plätze ein und warten auf den Beginn der Veranstaltung. Ich lese Reddit und Sarah fotografiert, steht dazu ab und zu auf. Der Fotografin neben uns fällt ihr Smartphone aus dem Stativ und sie klemmt es wieder fest. Ein Fotograf mit sehr großem Objektiv hat sich im Schneidersitz in den Gang gesetzt. Eine Platzanweiserin fordert die Presse auf, einen Korridor freizulassen.
Als Erster betritt die Bühne Manuel Rubey, der die Veranstaltung moderiert. Er trägt einen eng geschnittenen Anzug und legt seine Moderationsrolle betont lässig an, macht einen Scherz über die Preis-Jury, bevor er die beiden Intendanten ans Pult holt. Wie jedes Jahr startet die Diagonale mit einer Art Rede zur Lage der Nation, immer politisch und wohlüberlegt, sorgsam darauf bedacht, die üblichen Phrasen zu vermeiden, was großteils gelingt. Letztes Jahr war das Motto der Zweifel, diesmal sprechen sich die Beiden für Genauigkeit aus. Gemeint ist eine Art der Geduld, der Verweigerung gegen allzu emsige Aktivität. Es sei an der Kunst, sich in Zeiten der Propaganda dem Kampf um Meinungshegemonie zu verschließen und sich stattdessen an den künstlerischen Prozess zu verlieren. So interpretiere ich jedenfalls die Stoßrichtung der Rede: politisch sein qua Absage an die Realpolitik.
Aus dem Mund der beiden eine glaubwürdige Ansage. Seit ihrer Intendanz machen sie ein in diesem Sinne politisches Programm, das unkonventionellen Positionen und filmischen Experimenten eine Plattform bietet, aber auch explizit politischen Themen dort Raum gibt, wo sie mit filmischen Mitteln behandelt werden. Ein Programm, in dem Regisseurinnen im Vergleich zu anderen Festivals überproportional repräsentiert sind, ohne in eine Programmschiene gesteckt zu werden. Noch dazu haben sie es offenbar dieses Jahr geschafft, die Landes- und Stadtpolitiker davon zu überzeugen, dass der Charakter der Veranstaltung unter Reden von Politiker*innen leidet.
Deshalb geht es auch direkt an die Verleihung des „Großen Schauspielpreises der Verwertungsgesellschaft für Filmschaffende“. Der Preis ist, wie Rubey eigens hervorhebt, keine Trophäe, sondern ein Kunstwerk, das jedes Jahr von einer anderen Künstlerin gestaltet wird. Dieses Jahr wird Birgit Minichmayr ausgezeichnet, und bei dem Kunstwerk von Ashley Hans Scheirl handelt es sich um zwei goldene Eier (Straußeneigröße), die den Titel „Golden Balls“ tragen. Ich verstehe „Golden Boys“ und singe in Gedanken den israelischen Beitrag zum Eurovision Song Contest von 2015. „Golden Boys“, sage ich zu Sarah und kichere - „Golden Balls“, klärt sie mich auf. Ich ändere in Gedanken den Text des Liedes: „I’m a golden Ball …“
Die Laudatio für Minichmayr halten die Schauspielerin Johanna Orsini-Rosenberg und die Regisseurin Veronika Franz. Sie erzählen von ihren persönlichen Erfahrungen mit Michmayr und lesen Briefe von Kolleg*innen. Dann wird die Gewinnerin selbst auf die Bühne geholt. Sie kommt direkt an uns vorbei und ich verstehe jetzt, warum vorher ein Korridor freigeschaufelt wurde. Die Pressefotografen fotografieren wie an der Zieleinfahrt einer Etappe der Tour de France, und das Smartphone purzelt wieder aus dem Stativ. Minichmayr hat die Laudatio zu Tränen gerührt. Sie umarmt die Laudatorinnen und es folgt ein Moment des Zögerns, in dem sie sich wohl sammelt oder der einfach nötig ist, um zur Rede überzuleiten. Sie sagt, Schauspielen sei der schönste Beruf der Welt, alles daran liebe sie, außer das Werbung machen für die eigene Person, eine Erwartung, der man sich nicht entziehen könne. „Ich meine nicht hier“, fügt sie hinzu, „nicht euch.“
Wen sonst?, denke ich. Wir sind doch alle hier. Es gibt ja nur uns. Aber ich glaube, zu wissen, was sie meint.
Sie werde oft gefragt, sagt Minichmayr, was sie mit ihrer Kunst transportieren, was sie erreichen wolle. Dabei gehe es ihr nur darum, die Rolle eben zu spielen so gut es ginge, alles in diese künstlerische Arbeit zu legen. Ob das Publikum nun etwas mitnehme, oder was dieses Mitzunehmende wohl sein sollte, daran denke sie dabei nicht. Genauigkeit, echot das Motto in meinen Gedanken nach. Am Ende aber schwenkt sie noch um: Es gehe ihr zwar nicht darum, einen Effekt zu erzielen, aber sie hoffe doch, jemanden im Publikum durch ihr Spiel derart zu berühren, dass sie oder er sich verwandelt.
Ashley Hans Scheirl überreicht die Eier, gratuliert und sagt, dass Minichmayr sie eigentlich natürlich gar nicht nötig habe. Minichmayr bedankt sich herzlich, freut sich sichtlich aufrichtig.
Es ist über eine Stunde vergangen, in der ich mich – dank der fehlenden Reden von Seiten der Politik – kaum gelangweilt habe. So wirkungsvoll kann ein Weglassen sein.
Vor dem Eröffnungsfilm sehen wir den Diagonale-Trailer, gestaltet von Johann Lurf. Er trägt den Titel: „Nationalismus ist Gift für die Gesellschaft“. Ein leuchtendes Wasserrad dreht sich, schneller und schneller. Dazwischen werden Textzeilen mit politischen Botschaften eingeblendet. Filmisch funktioniert der Trailer, aber angesichts des ohnehin liberalen Diagonale-Publikums wirken die politischen Botschaften plakativ. Der Titel, selbst schon eine Parole, hätte gereicht, um dem sich drehenden Neon-Rad eine zusätzliche Bedeutungsebene zu unterlegen.
Auch der Eröffnungsfilm „Der Boden unter den Füßen“ von Marie Kreutzer hat ein politisches Thema. Die Regisseurin und ihr Produzent Alexander Glehr kommen auf die Bühne. Es wird dem Team gedankt und Marie Kreutzer bittet, man möge nach dem Film nicht klatschen, bevor der Abspann gelaufen sei. Der Abspann sei ein Teil des Werks, eine Würdigung des Materials (35mm-Film) und der Musik. Ich teile ihre Auffassung grundsätzlich. Der Abspann ist ein Moment der Reflexion, bevor man aus der Filmwelt gerissen wird, aufsteht, womöglich gleich gefragt wird, wie es einem gefallen hat. Trotzdem empfinde ich ein Unbehagen angesichts des Versuches der Filmemacherin, die Reaktion des Publikums gewissermaßen vorzugeben. Es sollte der Film selbst sein, der dem Publikum eine Haltung diktiert, in die es sich fügen kann oder versuchen, sich zu widersetzen.
Als Regisseurin ist Marie Kreutzer mittlerweile ein fester Bestandteil der internationalen Filmlandschaft und Stammgast auf der Diagonale. 2017 präsentierte sie mit „Was hat uns bloß so ruiniert“ und „Notlüge“ gleich zwei Filme und 2015 die Romanverfilmung „Gruber geht“. Meist rühren ihre Arbeiten an gesellschaftliche Themen, rutschen aber nie ins Kolportagenhafte, bleiben stets nahe an der indivudellen Geschichte und den Figuren. „Der Boden unter den Füßen“ erzählt von einer erfolgreichen Unternehmensberaterin, die unterm Druck der Konkurrenz und des Arbeits- und Erfolgszwangs zusammenzubrechen droht. Wirkliche Nähe zu den wenigen Bezugspersonen in ihrem Leben kann sie nicht mehr herstellen. Weder zu ihrer Vorgesetzten, mit der sie eine lockere Liebesbeziehung verbindet, noch zu ihrer depressiven und selbstmordgefährdeten Schwester. Man kann sich diese Figuren-Konstellation als Veräußerlichung des Innenlebens der Protagonistin denken. Die Schwester verkörpert das Aufgeben, das Sich-gehen-lassen, die verdrängte Hilfsbedürftigkeit, psychoanalytisch ausgedrückt das Es, während die Vorgesetzte als strenges Über-Ich auftritt, die sich und anderen nichts durchgehen lässt, was den geschäftlichen Erfolg behindern könnte, die sich zur Not auch mit Medikamentenhilfe am Laufen hält, die eben funktioniert. Zwischen den Anforderungen dieser beiden Pole hin und her gerissen, entwickelt die Hauptfigur Symptome von Burn-Out, halluziniert, und man fürchtet, die Fassade könnte ihr jeden Moment zerreißen und sie würde selbst dort landen, wo ihre Schwester die meiste Zeit der Filmhandlung verbringt: In der Psychiatrie des Otto-Wagner-Spitals, deren Pavillons aus dem frühen 20. Jahrhundert den malerischen Hintergrund eines Großteils der in Wien spielenden Szenen abgeben.
Man muss aber gar nicht so theroetisch werden, um sich von „Der Boden unter der Füßen“ in diese bestimmte Gefühlslage versetzen zu lassen, in der sich wahrscheinliche alle schon einmal selbst wiedergefunden haben – eine Mischung aus dem Drang zu einem unbestimmten Ziel, an dessen erfüllende Kraft man nur in Momenten ungewöhnlichen Optimismus zu glauben im Stande ist, und dem damit verbundenen Druck zu funktionieren, Erfolg zu haben, einer diffusen Erwartung zu entsprechen. Es ist wohl genau dieser Druck, der Minichmayr die Schauspielerei zu vermiesen droht und der im Grunde jede potentiell erfüllende Tätigkeit zu korrumpieren vermag.
Vergleicht man „Der Boden unter den Füßen“ mit einem Film, der für mich zu den persönlichen Highlights aller meiner Diagonalen zählt, Maren Ades „Toni Erdmann“, werden aber auch gewissen Schwächen oder sagen wir verschenkte Möglichkeiten sichtbar. Der Vergleich zu dem 2016 erschienen Film liegt nahe: Auch in „Toni Erdmann“ ist die Hauptfigur eine Unternehmensberaterin, die sich von ihrer Familie – in dem Fall ihrem Vater – entfremdet und der die Fähigkeit zu Nähe und Intimität verkümmert ist. Allerdings nimmt „Toni Erdmann“ weniger Rücksicht auf Erzählkonventionen. Der Film ist mit einer Spielzeit von 162 Minuten ungwöhnlich lang und folgt seiner Hauptfigur und der Logik der Handlung bis ins Groteske. Maren Ades Humor wirkt ungezwungen und indivduell, ergibt sich stets ganz aus der inneren Dynamik der Geschichte. Im Vergleich dazu muten die lustigen Stellen von „Der Boden unter den Füßen“ aufgesteckt an, passen eigentlich nicht zum Grundton des Films. Sie sind Comic Reliefs, die dem Publikum eine kurze Erhohlungspause verschaffen sollen. Und das, obwohl das Schauspiel des gesamten Ensembles eigentlich überzeugt. Selbst die dramatischen und lauten Szenen wirken nie überspielt, stoßen einen nie durch Übertreibung aus der Umklammerung des Films.
Traditionsgemäß gibt es nach dem Eröffnungsfilm ein Buffet und eine Party mit musikalischer Untermalung. Jetzt sind wir doch erschöpft, sogar irgendwie gereizt. Aufgetischt wird eine Erdäpfel-Käferbohnen-Pfanne, mit oder ohne Speck. Wir schieben uns zu den Tellern, landen auf der Ohne-Speck-Seite. Wir suchen einen Platz, um zu essen. Sarah setzt sich auf den Boden. Ich will nicht mehr sitzen, weil ich mir vom Filmschauen in der dritten Reihe den Nacken verrenkt habe. Ich stehe also awkward neben Sarah. Wir trinken Mineralwasser, das ich, wenn ich gerade nicht trinke, zwischen meinen Beinen abstelle, und löffeln unsere kräftig gewürzten Käferbohnen. Ein bisschen gebratener Speck hätte das Gericht trotzdem aufgepeppt.
Man könnte womöglich sagen, dass erst jetzt der eigentliche Teil der Veranstaltung beginnt. Es wird getrunken, es werden Fotos gemacht, es wird genetzwerkt. Man verkauft die eigene Person. Wir fühlen uns in gewisser Weise als Außenseiter. Auch wenn wir inzwischen Stammgäste sind, kennen wir abgesehen von den Intendanten kaum jemanden unter den Gästen. Wir halten nach bekannten Gesichtern Ausschau, tauschen ein paar Worte mit Peter Schernhuber, dann entscheiden wir, nach hause zu fahren. Schließlich sind wir in Graz, um Filme zu sehen, und am nächsten Tag erwartet uns ein voller Tag, den wir ganz in den Welten des neuen österreichischen Films verbringen wollen.