Samstag, 17. März 2018

Assoziation zu Bettina Henkels „Kinder unter Deck“

gesehen auf der Diagonale 2018


„Erinnerst du dich“, fragt Eva, „an dieses Spiel? Dieses Spiel, das wir immer beim Autofahren gespielt haben.“
Die Sonne senkt sich zwischen die Büsche, zwängt sich durch die Äste. Wenn Eva den Kopf hebt, sticht sie im Auge. Dafür färbt sie die Donau golden. Eine Böe kräuselt das Wasser, sodass man denkt, es bewege sich etwas darin, sodass man denkt, es regen sich tausende Fische, knapp unter der Oberfläche.
„Kinder unter Deck“, sagt Michael.
„Schön, nicht?“ Eva hält das Rotweinglas geneigt gegen das Licht.
„Ich hatte eigentlich immer Angst“, sagt Michael.
„Da unten. Nicht nur da unten, eigentlich. Es war so eine … wie soll ich sagen … eine Grundnervosität. Es konnte ja immer kommen.“
Eva stellt das Glas auf den Tisch, legt die Hand an den Fuß und schiebt es hin und her. Es schabt am Holz und der Wein jagt rote Schatten über den Tisch. „Ich habe die Sonne gemeint“, sagt Eva.
„Warum glaubst du, hat er das mit uns gespielt?“
Eva legt den Kopf in den Nacken, zieht die Schultern an den Hals. „Wenn man ihn jetzt fragen würde, würde er sagen, dass er eben seine Ruhe haben wollte.“
„Ich weiß nicht“, sagt Michael. „Also ich weiß nicht, ob er das sagen würde.“
Michael trinkt Frucade. Der Topfenstrudel, den er schon vor über einer viertel Stunde bestellt hat, kommt endlich. Michael lehnt sich etwas zurück, um dem Kellner Platz für den Teller zu machen. Am Strudel sitzt eine Wespe, schneidet ein Stück aus dem Blätterteig.
„Was sonst?“ fragt Eva.
„Früher hätte er das vielleicht gesagt. Es ist ja ein guter Trick. Man macht daraus ein Spiel: auf Befehl ist alles still, aber es ist ja nur ein Spiel.“
„Dann ist es nicht so streng.“ Eva lacht und etwas Wein schwappt über, perlt vom Holz ab, sickert in die Rillen.
Eine zweite Wespe setzt sich neben die erste. Michael verscheucht die Wespen, schiebt sich eine Gabel Topfenfüllung in den Mund. Den Teig nimmt er immer ab, hebt ihn sich auf und isst ihn ganz am Ende. „Er muss es aber gewusst haben“, sagt er.
„Darf ich von deinem Strudel?“
Michael reicht Eva die Gabel. „Iss ruhig.“ Er schiebt ihr den Teller hin, streicht wieder die Wespen fort, berührt eine mit den Fingerspitzen.
„Ich habe immer gedacht“, sagt Eva. „Wie lange müssen wir diesmal da unten hocken? Weißt du noch, diese Matten.“
„Das waren eigentlich kleine Perserteppiche, die hat er in Ägypten gekauft.“
Eva nimmt einen Bissen Topfenstrudel, sagt mit halb vollem Mund: „Grausliche Fetzen waren das. Ich habe immer den Schlamm aus den Fasern gekletzelt, der Schlamm ging nie aus, man konnte immer noch eine Stelle finden, wo man etwas heraus bekam.“
„Das weiß ich gar nicht mehr.“ Michael trinkt Frucade. Die Sonne ist jetzt hinter der Donauinsel untergegangen. Trotzdem ist es noch ganz hell. Nur wenn man in die andere Richtung sieht, merkt man schon, dass es dämmert. „Das habe ich nie gemacht, glaube ich.“
„Vielleicht war es eigentlich sein Spiel“, sagt Eva.
„Natürlich war es sein Spiel“, sagt Michael. „Er hat es erfunden. Wir hätten so ein Spiel nicht erfunden. Es war nur sein Spiel.“
„Ich meine“, sagt Eva, „vielleicht hat er etwas nachgespielt. Verstehst du? Etwas aus seiner Kindheit: seine Flucht.“
„Du meinst, er hat sich verstecken müssen?“
Michael deutet auf den Strudel und Eva legt die Gabel auf den Teller, schiebt alles zurück zu Michael.
„Nicht einmal unbedingt“, sagt Eva. „Ich meine eher eine Gefühlslage. Er hat eine Gefühlslage nachgespielt. Das Spiel hat gemacht, dass wir uns so fühlen, wie er sich als Kind gefühlt hat.“
„Ich weiß nicht“, sagt Michael und macht sich an den Blätterteig. „Was wissen wir schon über seine Gefühlslage als Kind?“
Der Blätterteig ist dick und durchgebacken, widersetzt sich Michaels Gabel. Er muss ihn immer wieder mit den Fingern festhalten und mit der Gabel aufspießen, um ihn auseinander zu bekommen. Irgendwann legt er die Gabel weg und isst mit den Händen, reißt und kaut. Beim Kauen sieht er hinaus über das Wasser, der Blick geht so weit, dass er vom Teig in seinem Mund wohl gar nichts schmeckt, dass er ihn nur wie automatisch zerbeißt und herunter schluckt.
„Seit wann isst du den Strudel schon so?“ fragt Eva.
Michael zuckt zusammen, dreht Eva den Kopf zu, sagt: „Gehen wir? Mir ist jetzt fast ein bisschen kalt, wo die Sonne weg ist.“